GEO 12/2003
Trauer: Abschied und Neubeginn
von Hanne Tügel (TEXT)
und Roman Bezjak (FOTOS-leider hier nicht möglich)


Geister scheren sich nicht um den Schlaf der Lebenden,
beharren auf dem Recht, sie jederzeit heimzusuchen, gern in den schwärzesten Stunden vor Tau und Tag. Auch ein Jahr danach fürchtet Evelyn Eichhorn die Nächte, in denen "so viel Schmerz, so viel Verzweiflung in mir ist, dass Weinen nicht reicht; da muss ich schreien. Natürlich so, dass ich die Nachbarn nicht aufwecke; ich drück' mir ein Kissen auf den Mund".
Trauernde sind höflich.

Warumsie?Warumkonnteichihrnichthelfen?Warum
ister dortentlanggefahren? In den besseren der schlechten Nächte schafft es Evelyn Eichhorn aufzustehen. Macht sich eine Tasse Kakao. Setzt sich ins Wohnzimmer neben den Tisch mit den frischen Rosen-sträußen, auf dem all die Kondolenzkarten drapiert sind. Raucht. Schaut zum zighundertsten Mal den Videoclip an, den Constanze in Venedig gedreht hat: Die Haare wehen; ihre Tochter schwebt durch die Stadt in Schwarz-Weiß als Traumwandlerin zur Musik der Hip-Hop-Band "Fettes Brot". Ihre wunderschöne Tochter. 22 ist sie geworden, hatte eine Karriere als Fotomodell vor sich. Zweite von 195000 Mitbewerbern bei "Gesicht 1997".
Danach Werbeauftritte; Laufstege in Mailand, Barcelona, Sydney.
In Constanzes Zimmer liegen der Teddy aus Kindertagen auf dem Bett, ihr Jogging-Anzug auf dem Stuhl und die Mappe mit den Unterlagen zum Prozess gegen den Todesfahrer auf dem Schreib-tisch. Darin Skizzen vom Unfallort, Fotos aus der Pathologie. Obenauf steckt das Porträt einer versonnen lächelnden Constanze in der Sichthülle; aber unweigerlich schiebt sich bei ihrer Mutter jenes Bild darüber, das sich in jener anderen Nacht im Juni 2002 "eingebrannt und eingemeißelt" hat: Die Tochter auf dem Asphalt einer Landstraße in der Toskana, "wie eine kaputte Puppe, die man hingeschmissen hat". Ende eines Abendspaziergangs bei Glüh-würmchen und Mondschein mit dem australischen Freund. Zwei Tage später hatten sie alle in Italien Evelyn Eichhorns Fünfzigsten feiern wollen.
Wo findet eine Mutter Trost, die ihre einzige Tochter, wie es so plastisch heißt, "verloren" hat? In der Einsicht, dass der Mensch eben sterblich ist? Im Gedanken an die Auferstehung Christi? Im Glauben, es gefalle Gott, Alfa-Romeo-Raser als Killer auszuschicken? Evelyn Eichhorn schaltet den PC ein und klickt sich im Forum www.leben-ohne-dich.de durch zu Einträgen anderer Schlafloser, verfasst um 2:12 Uhr oder um 3:29 Uhr.