"Du weißt, es gibt eine Welt mit Menschen, denen es genauso geht wie dir", sagtsie. "Du liest deine eigenen Gefühle. Und immer wieder: die Ignoranz der Familien, der Umwelt."Das Leben muss weitergehen, sagen die anderen. So wie sie es vielleicht selbst gesagt hätte. Vorher.

Der Tod tritt in der modernen Gesellschaft in einer seltsamen Doppelrolle auf. Einerseits als irritierender Dauergast. Eine obszöne Prozession zweidimensionaler Leichen drängt sich ungefragt ins Leben: Attentats-, Kriegs-, Flut-, Dürre- und Erdbebenopfer, Drogen- und Aidstote, zerfetzte, verbrannte, zerstückelte Körper in jeder Nachrichtensendung, in jeder Tageszeitung. Als Zugabe folgt die Parade nur auf Zeit erschossener, erdrosselter, vergifteter Spielfilm- und Serienhelden.

Aus dem wirklichen, dreidimensionalen, gefühlten Leben hat sich der Tod dagegen zurückgezogen. Der Anblick eines realen Leichnams ist aus guten Gründen seltener geworden. Weil die Kindersterblichkeit gesunken und die Lebenserwartung gestiegen ist. Weil in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich Frieden herrscht und keine Bomben fallen.

Zudem ist der Tod in professionelle Obhut ausgelagert; als "Exitus" findet er immer häufiger im Krankenhaus oder im Altersheim statt, verbunden mit diskreter Entfernung des Leichnams nach DIN 77300 ("Bestattungsdienstleistungen"). Ein kurzes Adieu im
allerengsten Familienkreis - dann gibt Personal im weißen Kittel den Sterbefall ab an Personal im schwarzen Anzug, mit der höflichen Mahnung, "bitte nicht den Vordereingang" zu benutzen. Der Leichenwagen draußen ist nicht als solcher erkennbar; er ähnelt einem beliebigen Transporter.

Der Schock setzt später ein. Niewiedergemeinsam
lachenessenstreitenspazierengehen. Nur manchmal tritt der Tod als Erlöser auf, viel zu oft als Hoffnungszertrümmerer und Sinnzerstörer. Nein, nicht alle 828541 aus der deutschen Jahresstatistik 2001 sind "sanft entschlafen" und konnten auf ein "erfülltes Leben" zurückblicken. Das Schicksal hält für Menschen wie Evelyn Eichhorn ein unermess-liches Repertoire an plötzlichen Verlusten und hässlichen Todesursachen bereit: 6044-mal Tot-geburten oder Säuglingstod im ersten Lebensjahr, 6977 Verkehrs-, 1835 Drogen-, 925 Mord- und Totschlags-Opfer, 11156 Selbstmorde. 65228 Herzinfarkte, 40671 Schlaganfälle. 207619 Menschen, denen Krebs den Körper zerstört hat.

Wenn sich Angehörige in Hinterbliebene ver-wandeln, erleben sie, dass der Gesellschaft etwas entglitten ist. "Die traditionellen Rituale der Trauer und der individuellen und kollektiven Vorbereitung auf den Tod haben keinen Ort mehr in einem Leben, das von am Diesseits orientierten Werten dominiert